post-title Christian Awe | En Vie | Sanofi | 09.09.-15.11.2016

Christian Awe | En Vie | Sanofi | 09.09.-15.11.2016

Christian Awe | En Vie | Sanofi | 09.09.-15.11.2016

Christian Awe | En Vie | Sanofi | 09.09.-15.11.2016

Unter dem Titel „EN VIE“ stellt der Berliner Künstler Christian Awe bis zum 15. November 2016 bei Sanofi am Potsdamer Platz aus.

Highlight der Ausstellung ist eine überlebensgroße Rauminstallation in Form eines Kunstparavents, den Awe eigens für die Ausstellungsfläche im Sony Center geschaffen hat. Ergänzend zur Ausstellung werden zwei Fassaden des Erdgeschosses an der Potsdamer Straße flächendeckend künstlerisch bespielt.

Die Fassade des Sanofi-Gebäudes an der Potsdamer Straße 8 ist ein Vorgeschmack darauf, was die Besucher im Inneren erwartet.

Der Ausstellungstitel „En Vie“ ist zu verstehen als Ausdruck des „Lebendig-Seins“, des „Im-Leben-Stehens“. Gleichzeitig ist er eine Antizipation zu Awes Wasserbildern: Wasser als Ursprung des Lebens und als Symbol der Reinheit einerseits; andererseits aber auch als Hindernis und unzähmbare Naturgewalt. So wie für abertausende Flüchtende, die ihre Heimat verlassen und sich auf einen beschwerlichen Weg -zum Teil über das Mittelmeer- machen, um Leib und Leben zu retten.

Die Werke dieser Ausstellung schließen an die Arbeiten an, die Christian Awe auf Anfrage der Landesregierung Niedersachsengeschaffen hat, und in denen er den für die aktuelle Flüchtlingsthematik so zutreffenden Ausspruch des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz „Einheit in der Vielfalt“ assoziativ aufgreift. Eines der Werke dieser Serie, das Bild „Begegnung“, war im Sommer über mehrere Wochen hinweg als großformatiges Wandbild an der Fassade der Vertretung des Landes Niedersachsen beim Bund in unmittelbarer Nähe des Holocaust Mahnmals zu sehen – als farbintensives Symbol für Verständigung und Toleranz an einem der historisch bedeutendsten Orte
Berlins.

Christian Awes aktuelle Ausstellung „EN VIE“ wird dominiert von einer überlebensgroßen Malereiinstallation, die der Künstler eigens für diese Ausstellung geschaffen hat und an der beidseitig Triptychen angebracht sind. Das Werk l’eau auf der einen Seite dieses mehr als drei Meter hohen und siebeneinhalb Meter breiten Paravents nimmt erneut das Thema „Wasser“ auf; Wasser als Quelle des Lebens, aber auch als naturgewaltiges, zerstörerisches Element. Eine Barriere, die viele Flüchtende zu überwinden versuchen, um zu einem besseren und vor allem friedlicheren Leben zu gelangen. Geht man um den Paravent herum, leuchtet einem das Bild vivant auf der anderen, helleren Seite entgegen.

Mit einem Fest aus Farben und Formen versprüht es eine immense Leichtigkeit und Lebensfreude – gerade so, als würde man das Leben feiern. Auch die weiteren Kunstwerke, die im Erdgeschoss des Gebäudes zu sehen sind, greifen die Themen Leben, Vielschichtigkeit,
Wasser und Migration auf; wie beispielsweise die runden Wasserbilder im Eingangsbereich Süd, die beim Betrachter verschiedenste Assoziationen zu diesem kraftvollen, lebensspendenden Element wecken. Gleichzeit verleiht ihnen ihre dreidimensionale Anmutung eine einzigartige Lebendigkeit und eine fast schon fotografisch wirkende Realitätsnähe. Die einer Sternenkarte ähnliche Anordnung der runden Wasserbilder symbolisiert einmal mehr die aktuelle Flüchtlingssituation, die uns alle vor Herausforderungen stellt. Sie kann verstanden
werden als Wegweiser aus den Krisengebieten nach Europa, das für so viele ein sicherer Zufluchtsort ist.

Abgerundet wird die Ausstellung durch die künstlerischen Werke Heimat und liqa‘ an der Süd- bzw. Ost-Fassade des Sanofi-Headquarters, wodurch die Ausstellung nicht nur innerhalb der Räumlichkeiten, sondern auch stark nach außen wirkt.

Im Katalog zu Christian Awes Ausstellung LIQAˈ, die derzeit in der Galerie Ludorff in Düsseldorf läuft, schreibt Dr. Klaus Speidel in seinem Text „Christian Awe – Postdigitale Illusionen ohne Objekte“:

„Das ist die Natur selbst. Die Gegenstände treten aus der Leinwand hervor und haben eine Wahrheit, die die Augen täuscht […]. Man versteht diese Magie überhaupt nicht. Da sind dicke, aufeinander aufgetragene Farbschichten, deren Effekt von unten nach oben durchdringt. In anderen Fällen möchten wir behaupten, ein feiner Dunst sei auf die Leinwand gehaucht, und wieder ein anderes Mal, ein leichter Schaum sei darüber gespritzt […]. Treten Sie näher: alles verschwimmt, verflacht und verschwindet. Entfernen Sie sich: alles erschafft und erzeugt sich wieder neu.“
(Denis Diderot, aus dem „Salon von 1763“)

Vollkommen anachronistisch am Anfang dieses Aufsatzes platziert, bezieht sich Denis Diderots
Zitat von 1763 eigentlich auf die figurative Stillleben-Malerei des französischen Salonmalers
Jean-Baptiste Siméon Chardin. Eigentlich. Denn so weit Diderot auch historisch von Christian
Awes Arbeit entfernt ist, so nah kommt seine Beschreibung ihr doch der Sache nach. Wie im Werk
Chardins fasziniert in Awes Arbeiten nicht zuletzt die Spannung zwischen Malerei und Bild. Wie
Chardin ist auch Awe ein Künstler, bei dem Farbe, Form und Pinselstrich ihre Eigenwerte behalten
– und dennoch ist er ein Illusionist. Farbe Farbe sein lassen und gleichzeitig täuschen, das ist ein
Paradox, das nicht nur das 18. Jahrhundert interessierte. Der Vergleich von Christian Awe mit
Jackson Pollock ist zumindest in dieser Hinsicht irreführend, auch wenn er sich nicht zu Unrecht
aufdrängt. Denn die Striche, Spritzer und der Farbfluss des amerikanischen Malers sind relativ
unvermittelt und damit jenseits jeder Illusion lesbar. Pollocks Drippings sind Spuren. Nichtabbildend
verweist ein Werk Pollocks dennoch indexikalisch auf seinen Entstehungsprozess und
macht ihn nachvollziehbar. Wie ein Tatort verweist es indizienhaft auf die Ereignisse seiner eigenen
Entstehung. Damit wird es nicht nur selbstreflexiv, sondern zeichenhaft erzählend, insofern als
eine Narration per definitionem Darstellung von Handlungen und Ereignissen ist.
Harold Rosenberg, der Erfinder des Ausdrucks „Action Painting“, formuliert es 1952 besonders
pointiert: „Was auf der Leinwand passiert, ist kein Bild, sondern ein Ereignis“ (H. Rosenberg,
„American Action Painters“, 1952). Die Leinwand wird dem Action Painter zu „einer Arena“, in der
der Maler nicht darstellt, sondern handelt. Der Künstler wird zum Gladiator, der in die Arena
steigt. Das Werk ist das, was vom Kampfe übrigbleibt. Von Spritzern übersät könnte auch
manches Werk Awes solch martialische Assoziationen wecken. Aber der erste Eindruck täuscht.
Tragen auch seine Leinwände Spuren, die auf eine Reihe von Handlungen schließen lassen, ist
es viel schwerer, sie direkt indexikalisch zu lesen. Man glaubt zu verstehen, wie die Schichten
aufeinander folgen, aber durch subtiles Schichten und Ablösen wird in Wirklichkeit ein Ablesen
der schöpferischen Handlungen aus dem Werk fast unmöglich. Oft wirkt auf den ersten Blick
wie ein spontaner Spritzer, was der realen Handlung nach ein langsames Abtragen ist. Awes
Arbeit stellt so nicht nur die Engführung von empfundener Schnelligkeit im Ausdruck und realer
Schnelligkeit im Schaffensprozess infrage, sondern schafft in diesem Zusammenhang weitere
Paradoxien. So spricht Gabriele Uelsberg in Bezug auf seine Arbeit von einer „Konstruktion
des Informellen“ (Dr. G. Uelsberg, Katalogtext in „Christian Awe – amour fou“, 2014) und legt
eine Ähnlichkeit mit Renaissance-Malerei nahe. Tatsächlich könnte man Awes Arbeit mit der
Sprezzatura in Zusammenhang bringen, die nach dem italienischen Renaissance-Theoretiker
Baldassare Castiglione zum künstlerischen Prinzip par excellence avancierte. Die Sprezzatura
ist die gekonnte Simulation von Spontaneität, die Fähigkeit „es so aussehen zu lassen, als sei
das, was man geschaffen hat, ohne Schwierigkeit und fast ohne Nachdenken entstanden“
(B. Castiglione, Il Cortegiano, 1528), während in Wirklichkeit das Gegenteil der Fall sein mag (und
vermutlich sein sollte). Während visuell der Unterschied groß ist zwischen italienischer Malerei
der Renaissance und Awes abstrakten Kompositionen, ist der Weg bei beiden ähnlich: Es geht um
Kunst, die die Kunst verbirgt.
Wie die Werke der Renaissance gehen Awes Arbeiten auf den Betrachter zu, wollen ihn, wie der
Maler selbst sagt, „in Staunen versetzen“. Unmittelbarkeit und totale Lesbarkeit des Malprozesses
sind für Awe keine Werte an sich.
Auch die Idee der Schnelligkeit, die dem Abstrakten Expressionismus oft so wichtig ist, weil sie
Unmittelbarkeit garantiert, ist bei Awe problematisch. Da viele seiner Arbeiten den Eindruck
großer Dynamik und Geschwindigkeit erwecken, schließen viele Betrachter auf einen schnellen,
explosiven und spontanen Schaffensprozess. Das entspricht aber gar nicht oder nur teilweise
den Tatsachen. Die Arbeitsweise Awes lässt zwar Zufälligkeiten zu, und der Künstler lässt sich
gerne von seinen Werken überraschen, aber das Auftragen, Trocknen und partielle Ablösen von
5 bis 15 Farbschichten ist ein bewusst gesteuerter Prozess, der oft mehrere Wochen dauert.
Dabei gibt es viele sehr überlegte Arbeitsschritte, die zwar als solche die Präzision seiner
Kompositionen erklären, aber sich an der Bildoberfläche nicht direkt als solche zu erkennen
geben. Was wie zufällig aussieht, kann hier bewusst durch Abtragen geformt oder gemalt sein.
Viele Bildzonen, die wirken als seien sie addiert und auf das Bild getropft, wurden in Wirklichkeit
durch Subtraktion wieder aus tieferen Schichten an die Oberfläche geholt. Technisch steht Awe
den Decollagisten wie Mimmo Rotella oder Jacques Villeglé in diesem Sinne näher als vielen
der amerikanischen Action Painters. Im Übrigen unterscheidet sich schon zur Blütezeit des
traditionellen Action Paintings die Arbeitsweise verschiedener Maler entschieden: Willem de
Koonings Bilder beispielsweise evozieren einen schnellen Pinselstrich, während er in Wirklichkeit
oft monatelang an einem Werk arbeitete. Awe selbst verweist auf die relative Langsamkeit Jean-
Michel Basquiats. Es sei dahingestellt, ob man in diesem Rahmen bereits von einer Art
Illusion (zum Beispiel von Geschwindigkeit oder visueller Vordergründigkeit) sprechen will, die der
Modernismus, der den intellektuellen Hintergrund des Action Paintings bildet, ablehnen würde.
In seiner Illusionskritik richtet sich der Modernismus-Theoretiker Clement Greenberg besonders
gegen jeden Versuch, auf flacher Leinwand ein Gefühl von Tiefe zu erzeugen. Wer als Künstler
darauf abzielt, hat nach Ansicht des amerikanischen Kritikers Malerei als Medium missverstanden.
Greenberg schätzt im Gegenteil Werke, die die Flachheit der Leinwand betonen und
damit hervorheben, was der Malerei zu eigen ist und sie auch von der Skulptur unterscheidet.
Zunächst scheint es, als würden viele der Bilder Awes – gerade auch die Wasserbilder, die so sehr
den Eindruck von Dreidimensionalität erwecken – auch in diesem Sinne Greenbergs Aufforderung
widersprechen und praktisch an Bildtheorien anknüpfen, die, von Platon bis Lessing, Illusion als
das Ziel der Kunst definieren, auch wenn sie ohne Objekte auskommen. Sieht man sich aber die
Texte Greenbergs genauer an, stellt man fest, dass auch er der Illusion einen Platz einräumt.
Manchmal, so Greenberg, „unterstreicht der Künstler bewusst das Illusorische der Illusion,
die er zu schaffen vorgibt. […] Das Ergebnis ist eine optische Illusion, keine realistische. Diese
unterstreicht gerade die Undurchdringlichkeit der flachen Oberfläche.“ (C. Greenberg, „Towards a
newer Laocoon“, 1940). Genau das scheint mir aber die Erfahrung zu sein, die uns die Wasserbilder
vermitteln. Durch ihre fast surreale Plastizität lassen sie die Flachheit des Mediums umso
deutlicher hervortreten. Treten wir nah genug heran, um nach den Tropfen zu greifen, „verflacht
und verschwindet alles“. Weil wir im wahrsten Sinne „ent-täuscht“ werden, sind wir es gerade
nicht: die Tropfen sind dreidimensional auf ganz glatter Oberfläche.
Die Genese der Wasserbilder bringt uns den Schaffensprozess Awes näher. Die Wissenschaftlichkeit
seiner Arbeit tritt hier gerade deshalb so deutlich hervor, weil ein Unfall am Anfang stand.
Davon gleich mehr. Wichtig ist zunächst, dass für Christian Awe Kunst schon lange, bevor der
Begriff der artistic research in aller Munde war, mit Magie, Forschung und Handwerk zugleich zu
tun hatte. So beobachtete er im Alter von sechs Jahren, wie der Maler Manuel García Moia ein
riesiges Kunstwerk auf einer Hauswand in seinem Stadtbezirk Berlin-Lichtenberg entstehen
ließ. Bis heute nicht vergessen hat er, wie der Künstler dabei aus nur sechs Farben, die ihm zur
Verfügung standen, 30 Farbtöne mischte. Dieser Aspekt faszinierte ihn damals offenbar mehr
als der Inhalt des Bildes, den er auch heute nicht erwähnt, wenn er von seinem Schlüsselerlebnis
berichtet. Vielleicht hängt es mit dieser frühen Erfahrung zusammen, dass Awe sich nicht mit
einer bloßen Nutzung vorgefundener Materialen zufrieden gibt, sondern ständig nach neuen
Techniken sucht, um seine Gestaltungsmöglichkeiten zu erweitern. Schüttbilder, Musterbilder,
Wasserbilder… Immer wieder fällt bei Awe eine stilistische Veränderung mit der Entwicklung
einer neuen Technik zusammen. In seinen Wasserbildern, die seit 2015 entstehen, zwingt er
Wassertropfen, die sonst nur transitorisch denkbar sind, zum Verweilen. Dabei hat er gar nicht
nach einer solchen Lösung gesucht, sondern bloß ein Bild im Regen stehen lassen. In anderen
Worten: Es gäbe diese Bilder nicht ohne die serendipity, die auch für viele nicht-künstlerische
Forschungserfolge wesentlich ist. Es handelt sich um das Prinzip, dem wir die Post-its und den
Klettverschluss, das Penicillin und die Entdeckung der Röntgenstrahlung verdanken. Horace
Walpole, der Autor, der den Begriff geprägt hat, definiert die Serendipität als die Fähigkeit, etwas
zu finden, das man nicht gesucht hat. Wie Fleming das Penicillin entdeckte, als er eine Nährplatte
mit Staphylokokken vergaß und sich darauf Schimmel bildete, entwickelte Awe die Technik für
seine Wasserbilder, nachdem ein Bild, das zum Trocknen auf der Terrasse stand, Regen abbekam.
Als es ihm gelang, den Ärger über das fahrlässig zerstörte Werk zu überwinden, entdeckte der
Künstler das Potential zu einem neuen Typ Bild. Darin verbirgt die Kunst die Kunst so sehr, dass
sie wie Natur wirkt, und es scheint, als hätte der Künstler nicht gemalt, sondern bloß die Spur
eines natürlichen Prozesses „eingefangen“. Phänomen und Abbildung des Phänomens fallen hier
auch räumlich zusammen. Das Ergebnis sind Bilder, die so plastisch wirken, dass wir sie anfassen
müssen, um unsere Augen Lügen zu strafen.
Die „reinen“ Wasserbilder von 2015 zeichnen sich durch ihre relative kompositorische Einfachheit
aus. Nur wenige Schichten liegen hier übereinander, und die Werke haben oft eine klare Richtung.
Manchmal hintergründig, sind sie doch viel übersichtlicher und weniger explosiv als viele der
früheren Arbeiten. Sie legen eine kontemplativere Betrachterhaltung nahe. Zwar auch auf dauer-
hafte Betrachtung angelegt, enthalten sie weniger ambivalente Formen als vieles, was der
Künstler zuvor geschaffen hat. Die Wasserbilder von 2015 erscheinen so auch visuell als eine
Verlangsamung in seinem Schaffen, das mit der Entwicklung und Integration eines neuen
Mittels in sein malerisches Repertoire einhergeht. In den Werken von 2016, die Wasserelemente
aufgreifen, nimmt die Schichtung wieder zu, und Stilelemente seiner vorherigen Arbeit tauchen
wieder auf. Sein Formenvokabular hat das Wasser organisch integriert, wie in den Jahren zuvor
schon die Kiesel oder Muster.
Während die Langsamkeit von Awes Malprozess den Eindruck von Schnelligkeit, den seine
Bilder ausstrahlen, Lügen straft, erklärt sie vielleicht die Komplexität der Werke. Zwar besitzen
viele seiner Bilder eine große Kohärenz, und ihre Struktur ist deshalb relativ schnell erfassbar;
zwar lässt sich ein Werk wie Begegnung, das Wandbild, das Awe 2016 für die Landesvertretung
Niedersachsen in Berlin geschaffen hat, auf ein Prinzip wie Einheit in der Vielfalt beziehen –
dennoch laden die Werke zu einer längeren Beschäftigung ein. Nicht nur, weil nur so der Betrachter
hoffen kann, doch noch die Erzählung zu rekonstruieren, die sie indexikalisch zu vermitteln
suchen, sondern auch wegen der vielen Schichten und ambivalenten Formen, die verschiedene
Deutungen zulassen. Auch in diesem Sinne sind seine Arbeiten „klassisch“, denn wie G. E. Lessing,
ein Zeitgenosse Diderots, 1766 in seiner Schrift Laokoon erklärt, sind Werke der Malerei nicht
da, um „bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet
zu werden […]. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir
dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.“ Auch hier geht es natürlich nicht um
abstrakte Kunst, ja nicht einmal um Stillleben, sondern um Historienmalerei, das Darstellen
mythologischer oder religiöser Erzählung – und zwar nicht als Spur, sondern ikonisch bildhaft.
Aber auch dieses Zitat lässt sich auf Awe beziehen. Nicht nur, weil er Bilder schaffen möchte, an
denen man sich nicht satt sieht; Werke, die so komplex sind, dass man darin immer wieder etwas
Neues entdeckt; nicht-figurative Darstellungen, die sich Familien abends gemeinsam ansehen,
statt fern zu sehen, sondern auch, weil er in seinen Bildern das Vorübergehende fixiert und so
fruchtbare Momente schafft, die, wie Lessing gesagt hätte, die „Einbildungskraft“ anregen, mehr
hinzuzudenken als wir zu sehen glauben.
Spannend ist, dass Awes Arbeit uns geradezu herausfordert, traditionelle Überlegungen zur
Kunst heranzuziehen, und dennoch so dezidiert zeitgenössisch wirkt, dass es schwierig wäre,
sich auch nur vorzustellen, sie sei im 20. Jahrhundert geschaffen worden. Unseren postdigitalen
Augen fällt es sogar schwer, sie ganz von Assoziationen computergenerierter Formen frei zu
halten. In der realen Welt scheint etwas entweder geflossen oder gemustert zu sein. Wenn ein
Farbtopf oder eine Spraydose mit Muster statt Farbe gefüllt ist, sind sie digital. Muster tropfen
zu lassen, schien nur im Grafikprogramm möglich. Seltsamerweise erinnere ich mich noch ganz
dezidiert an meine Überraschung, als ich erstmals gesprühte oder geflossene Tapetenmuster
aus der Dose kommen sah – auch wenn die Dose virtuell war und die Muster nur auf meinem
Bildschirm erschienen. So rufen also Awes reale Musterbilder Erinnerungen an digitale hervor.

Ist dieser Transfer einmal vollzogen, digitalisiert sich seine Arbeit vorübergehend mental, seine
echten Schichten erinnern uns an die Layers aus Photoshop, und die Farbintensität seiner Werke
lassen uns an eine Hintergrundbeleuchtung denken, wie sie unsere Bildschirme haben… .
Auch wenn es uns in manchen Fällen schließlich gelingt, unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit
anzupassen, die Subtraktion nicht nur als solche zu erkennen, sondern auch zu sehen, wenn die
Illusion der geflossenen Muster langsam nachlässt und damit auch die digitalen Assoziationen
schwächer werden, finden wir doch immer wieder zu unserer primären Wahrnehmung zurück,
in der Muster fließen, Explosionen stillstehen und Wassertropfen auf der Fläche rund bleiben.
Awes Bilder werden dabei zu Kippbildern, die wie Jastrows Hasenente als das eine oder andere
erscheinen können, wobei jede der Deutungen eine ganze Reihe anderer Seherfahrungen nach
sich zieht: „Wir deuten sie also und sehen sie, wie wir sie deuten.“ (L. Wittgenstein, Philosophische
Untersuchungen, 1953). Während also ein besseres Verständnis des Vorher, Nachher, Davor,
Dahinter, Hinzugefügt oder Weggenommen zu einer „Ent-Täuschung“ führen kann, ist diese eine
Bereicherung, denn beim nächsten Blick ist noch immer alles umgekehrt.

Zum Autor: Dr. Klaus Speidel ist Philosoph und Kunstkritiker. Er hat in München und Paris studiert und dort an
der Sorbonne promoviert. 2015 wurde er mit dem Prix AICA France für Kunstkritik ausgezeichnet. Seit Oktober
2015 leitet er als Lise-Meitner Postdoc Fellow das Projekt „Zur experimentellen Narratologie des Bildes“ im
Labor für empirische Bildwissenschaft an der Universität Wien.

Über Christian Awe
Die Bilder des 1978 in Berlin geborenen Künstlers Christian Awe sind geprägt von eindringlicher Strahlkraft und Dynamik. Seine farbintensiven und komplexen Werke bauen sich in zahlreichen Schichten auf. Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens bildet die Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Malerei wie Farbe, Kontrast und Komposition. Awes Werke bestechen durch ihre gestische und organische Formensprache. Diese ergibt sich aus einem spannungsreichen Dialog zwischen Spontanität, Experiment und künstlerischem Konzept.

DIE EDITION EN VIE – L’EAU / VIVANT
Von den beiden Triptychen des Paravents, l’eau und vivant, hat Christian Awe speziell für diesen Anlass eine limitierte Charity-Edition von jeweils 100 Stück (28 x 63 cm) aufgelegt. Mit dem Erwerb dieser Edition unterstützen Sie den Bau einer Schule und eines Hospitals in Burkina Faso und helfen somit, Fluchtursachen vor Ort zu bekämpfen. Die Schule wird im kommenden Jahr fertiggestellt. Im Anschluss daran wird in einem zweiten Schritt mit dem Bau eines Krankenhauses begonnen.
Bestellen Sie Ihr vom Künstler handübermaltes, signiertes und nummeriertes Exemplar zum Preis von EUR 350,- (ungerahmt) bzw. EUR 450,- (gerahmt) unter: info@christianawe.com.

Über art@sanofi
Die Kunst hat seit einigen Jahren einen festen Platz innerhalb des gesellschaftlichen Engagements von Sanofi. Seit dem Jahr 2013 fördert das Unternehmen die Schirn Kunsthalle in Frankfurt – eines der renommiertesten Ausstellungshäuser Deutschlands. Mit dieser Partnerschaft unterstützt Sanofi die Realisierung von Ausstellungen namhafter Künstler und Konzepte vielversprechender Nachwuchskünstler. Im Jahr 2015 hat die Kunst bei Sanofi mit dem Label art@sanofi auch eine Marke erhalten. art@sanofi bietet Künstlern ein Forum für ihre Arbeiten, etablierten ebenso wie den jungen Künstlern. Die Ausstellungen in den Räumen von Sanofi im Sony Center am Potsdamer Platz in Berlin sollen ein Ort des Dialogs sein – jenseits des Kerngeschäfts und über ganz neue Wege.

Ausstellungsdaten: Freitag, 09. September bis Dienstag, 15. November 2016, täglich 09:00 – 19:00 Uhr (Eintritt frei)

WO? Sanofi, Potsdamer Straße 8, 10785 Berlin-Tiergarten

 

Bildunterschrift: Christian Awe – En Vie 2016 – Ausstellung bei Sanofi – Foto © Bernd Borchardt

Ausstellung Christian Awe – sanofi – Kunst in Berlin ART at Berlin

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