bis 18.01 | #4518ARTatBerlin | Sexauer Gallery präsentiert ab 22. November 2024 die Ausstellung Field of Fragments der Künstlerin Jeewi Lee.
Field of Fragments
Seit Jahren beschäftigt Jeewi Lee sich künstlerisch mit Spuren, verkörperten Erinnerungen und Phänomenen der Zeit, oft verbunden mit Naturprozessen.
Vor einiger Zeit wandte Lee sich dem Bodenmaterial Sand zu. In ihrer Ausstellung Field of Fragments radikalisiert sie diesen Ansatz und zeigt eine Totalinstallation, welche die Besucherinnen makroskopisch und mikroskopisch mit jenem mineralisch-organischen Material bekannt macht, das uns allen so vertraut scheint, in Wirklichkeit aber voller Wunder ist. Lee zeigt Skulpturen und Bilder aus Sand, legt diesmal den Fokus aber auf einzelne Körner und deren erstaunlich unterschiedliche Formen.
Sand wird oft als belanglos betrachtet, ist jedoch eine der wichtigsten Ressourcen der Welt. Mit Sand wird Beton, Zement oder Glas hergestellt, ohne Sand also keine Straßen oder Städte. Sand wird zur Produktion von elektronischen Bauteilen genutzt, ohne Sand gäbe es keine Photovoltaik oder Microchips und keine künstliche Intelligenz. Mit Sand stellen wir Zahnpasta her, Jeans oder ganze Inseln. Jenseits dieser Nutzung durch den Menschen ist Sand aber auch ein wichtiger Speicher für Trinkwasser und ein Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten.
Zwar meinen wir alltagssprachlich, es gäbe einen Gegenstand so zahlreich wie Sand am Meer. Tatsächlich ist Sand aber mittlerweile zu einer knappen Ressource geworden. Weltweit werden jedes Jahr 50.000.000.000.000 Kilogramm abgebaut, in Worten: fünfzig Millarden Tonnen. Das entspricht vierzig Milliarden Autos. Dieser Abbau führt zu Umweltschäden, durch die ganze Landschaften und Ökosysteme zerstört werden können. Aber auch ein so zartes „Detail“ wie die Geschlechterverteilung von Schildkröten kann durch den Sandabbau aus dem Gleichgewicht gebracht werden, weil die Temperatur der Schildkrötennester beeinflusst wird und damit auch das Geschlecht der Schildkröten.
Sand besteht aus winzigen Teilen abgelagerten Gesteins. Durch tektonische Verschiebungen wird es an die Oberfläche gedrückt und einzelne Teilchen lösen sich. Diese als Körner bezeichnete Teilchen werden von Flüssen zum Meer geschwemmt. Wie winzige Skulpturen wird jedes Korn dabei geschliffen und geformt. An den Strand gespült, vermischt mit Kalk von Muscheln und Korallen, hat es eine Reise von tausenden Kilometern hinter sich. Manche Körner durchlaufen mehrere Zyklen der Ablagerung und Wanderung und können so bereits Milliarden Jahre alt sein, bevor wir am Strand für wenige Minuten unseren Abdruck im Sand hinterlassen.
Jedes einzelne Sandkorn trägt somit in sich unvorstellbar lange Zeitspannen, Strecken und Erinnerungen, die von Erdzeitaltern ebenso erzählen wie von Alltagskonsum, Kapitalismus und Migration. Sand ist wie eine flüssige Erde, ständig in Bewegung, immer im Fluss, bestehend aus Mineralien und Überbleibseln seiner Umgebung, jedes einzelne eine Verkörperung von Erinnerungen – “embodiment of memories”.
Die Faszination für Sand ist so alt, dass sie sich in unsere Sprache eingeschrieben hat: ein Haus ist auf Sand gebaut, ein Vorhaben verläuft im Sand. Die Zeit verrinnt uns wie Sand durch die Finger. Und mit deren Verrinnen verschwindet auch der Mensch – wie „am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ – so Foucaults berühmter Topos. Fast scheint es, als könnten wir in Field of Fragments von Jeewi Lee etwas von unserer verlorenen Zeit wiederfinden.
Jeewi Lee wird international ausgestellt. Sie hatte Einzelausstellungen in der Kunsthalle Recklinghausen und im Kunstverein in Hamburg. Ihre Arbeiten wurden in der Bundeskunsthalle gezeigt, im Gropius Bau Berlin, Kunstmuseum Wolfsburg, Museum für Gegenwartskunst Hamburger Bahnhof, Mönchehaus Museum, bei Urbane Künste Ruhr und im Kunstmuseum Stuttgart. Lee war Stipendiatin der Villa Romana und der Josef & Anni Albers Foundation. Sie erhielt den Villa Romana Preis, den Kunstpreis „junger westen“ und 2025 wird sie Fellow sein in der Villa Aurora in Los Angeles.
Die Skulpturen von Field of Fragments entwickelte Jeewi Lee in Zusammenarbeit mit dem Grundlagenforscher für Geometrie Phillip C. Reiner.
Stets in Bewegung und doch verbunden mit spezifischen Orten, birgt Sand geologische Erinnerungen in seiner elementaren Struktur und ruft gleichzeitig durch seine Farbe, die Haptik zwischen den Fingern und die Beschaffenheit seiner Körnung referenzielle Erinnerungen wach. Der Sand von heute war einst Berge, Korallenriffe und Felsformationen. Jedes Korn hat eine geologische Abstammung, die Sand mit einem Ort und dessen Geschichte verbindet, und zugleich trägt jedes Korn eine symbolische Assoziation, die diese Geschichte indiziert.
— What the Sands Remember, Vanessa Agard-Jones[1]
Staub, Salz, Asche, Kies, Kaffeesatz, Schulpen, Elefantendung. Sand. Jeewi Lee widmet sich in ihren Arbeiten Überbleibseln, in deren Formen und Aggregatzuständen verkörperte Erinnerungen verborgen liegen, die Lee aufspürt und offenlegt. Mit ihrer Praxis werden Rückstände als Archiv vergangener Prozesse und potenzieller Zukünfte lesbar. Um diese subtilen Einschreibungen zu entziffern, müssen wir unsere Sinne und Aufmerksamkeitsgewohnheiten auf ihre einzigartigen physischen Eigenschaften und Zeitlichkeiten einstellen. Langsame Erosionsraten, das schnellere Tempo biologischer Zersetzung und die nahezu sofortige Wirkung von Verbrennung stellen unterschiedliche Anforderungen an unsere kognitiven Fähigkeiten. Im Gegenzug bieten diese Einschreibungen inkommensurable Strukturen narrativer Zeit – Geschichten, die parallel zu den Dramen der Menschheitsgeschichte verlaufen, jedoch oft als Hintergrundbedingungen abgetan werden, auch bekannt als „Umwelt“.
Als Tochter zweier südkoreanischer Künstler*innen, die zwischen Deutschland und Korea aufwuchs, fühlt sich Lee von Materie angezogen, die wandert und sich manchmal „nicht am richtigen Platz“ befindet. Die Geschichten, die in dieser Materie eingebettet sind, spiegeln menschliche Erfahrungen wider – nicht nur als Metapher, sondern auch als Index: Fußspuren im Sand (BLINDER BEIFALL, 2016); Staub, der aus Ausstellungen zusammengefegt wurde, Überreste, die von den Besucher*innen stammen (GRAUWERT, 2017 bis heute); das allmähliche Verschwinden der Grenze zwischen schwarzen und weißen Kieszonen (FRAKTUR, 2018). Linoleum- und Hanji-Jangpan Papier-Bodenbeläge, die Gebrauchsspuren tragen, treten in den Vordergrund und sind Teil von Lees fortlaufender Untersuchung der wechselseitigen Einschreibung von Individuen und ihrer Umgebung – als Teil einer sanften, aber beharrlichen Aufforderung, ein materielles Unbewusstes wahrzunehmen, das sich direkt unter unseren Füßen befindet.
Field of Fragments ist die erste Ausstellung, die Lees Auseinandersetzung mit Sand zeigt – einem Material voller Paradoxien. Sand ist eines der am häufigsten vorkommenden Materialien der Erde. Doch nach etwas mehr als einem Jahrhundert des Bauens mit Glas und Beton sowie digitaler Technologien, für die Silizium verwendet wird, ist Sand zu einer knappen Ressource geworden. Sandabbau führt weltweit zu bewaffneten Konflikten und Umweltzerstörungen, wie der Film Sand Wars (2013) dokumentiert. Sand ist fest, verhält sich jedoch oft wie eine Flüssigkeit (wenn er gegossen wird) oder sogar wie ein Gas (in Sandstürmen schwebend). Sand ist ein Pluralwort, das in der Sprache und in der Welt selbst als unzählbare Menge vorkommt. Das Sorites-Paradoxon beschäftigt Philosoph*innen seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. mit der Frage, wie viele Körner hinzugefügt oder entfernt werden müssen, um von einem einzelnen Sandkorn zu einem Haufen (soros) zu gelangen. Heute wird dies zu einer wirtschaftlichen Frage, da künstliche Inseln und Strände, die durch steigende Meere erodieren, mit kostspieligen Sandaufschüttungen aus Offshore-Meeresböden „genährt“ werden. Gleichzeitig breiten sich Sanddünen unter dem Druck der Desertifikation über immer größere Gebiete aus.
Eine Sammlung paradoxaler Skulpturen markiert die konzeptionellen Koordinaten von Lees Ausstellung. Jede repräsentiert ein einzelnes Sandkorn aus eben diesem Material, mehr als 850-fach vergrößert, um dessen unwiderlegbare Einzigartigkeit zu enthüllen und Erinnerungen wachzurufen, die in seinen Kurven und Kluften verborgen liegen. Entgegen der allgemeinen Vorstellung werden Sandkörner durch Reibung im Laufe der Zeit nicht glattgeschliffen, wodurch die Spuren vergangener Ökosysteme und geophysikalischer Prozesse ausgelöscht würden. Vielmehr entstehen durch diese Merkmale bestimmte Sandvorkommen mit charakteristischen Kornformen, mineralischen Zusammensetzungen und anderen Eigenschaften, die die physische und dann auch digitale Grundlage globaler Infrastrukturen bilden.
Durch ozeanische Strömungen von Küste zu Küste getragen, repräsentiert Sand buchstäblich und bildlich die Dialektik des Allgemeinen und des Besonderen – „eine Welt in einem Sandkorn“, in den Worten William Blakes. Und auch wenn es intuitiv ist, ist ein vergrößertes Sandkorn doch ein Widerspruch in sich, da Sand vor allem durch seine Größe definiert ist. Alles kann zu Sand werden; heute sind Strände übersät mit Plastikteilen und anderen synthetischen Materialien, die in Körner von etwa 0,06 mm bis 2,0 mm erodiert sind. Hier ermöglicht Lees minimalistische Ästhetik, die konsequent auf einer strengen Palette aus natürlichen Grautönen beruht und nun um die rötlichen, gelben und braunen Sandtöne erweitert wurde, einen Fantasie-Flug. Als hyperrealistische Rekonstruktionen von Sandkörnern bieten die Skulpturen einen Hauch von Humor – eine Erleichterung angesichts der mathematischen Erhabenheit, die an das Grauen des Sorites-Paradoxons und die unendliche Aufgabe des Zählens grenzt. Unter dem Druck der Eigenlogik des Materials werden sie surreal.
Diese Skulpturen sind das Ergebnis von Lees intensiver Zusammenarbeit mit dem Geometrieforscher Phillip C. Reiner, dessen Studio protoCtrl – advanced geometries sich auf parametrische Untersuchungen künstlerischer Konzepte spezialisiert hat. Reiners Arbeit konzentriert sich auf die Entwicklung künstlerischer Ideen, die auf natürlichen Phänomenen beruhen, die durch mathematische und physikalische Prinzipien beschrieben werden. Gemeinsam wählten sie unter Berücksichtigung formaler und poetischer Aspekte Sandkörner von verschiedenen Orten aus, an denen Lee arbeitet. In Zusammenarbeit mit Spezialist*innen der Carl Zeiss Industrielle Messtechnik GmbH wurden die von Lee und Reiner ausgewählten Körner (0,3-1 mm groß) mithilfe eines Röntgenmikroskops gescannt. Die Scans wurden zu dreidimensionalen Computermodellen verarbeitet, die wiederum die Grundlage für die Skulpturen bildeten.
Field of Fragments ist die erste Ausstellung, die Lees Auseinandersetzung mit Sand zeigt – einem Material voller Paradoxien. Sand ist eines der am häufigsten vorkommenden Materialien der Erde. Doch nach etwas mehr als einem Jahrhundert des Bauens mit Glas und Beton sowie digitaler Technologien, für die Silizium verwendet wird, ist Sand zu einer knappen Ressource geworden. Sandabbau führt weltweit zu bewaffneten Konflikten und Umweltzerstörungen, wie der Film Sand Wars (2013) dokumentiert. Sand ist fest, verhält sich jedoch oft wie eine Flüssigkeit (wenn er gegossen wird) oder sogar wie ein Gas (in Sandstürmen schwebend). Sand ist ein Pluralwort, das in der Sprache und in der Welt selbst als unzählbare Menge vorkommt. Das Sorites-Paradoxon beschäftigt Philosoph*innen seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. mit der Frage, wie viele Körner hinzugefügt oder entfernt werden müssen, um von einem einzelnen Sandkorn zu einem Haufen (soros) zu gelangen. Heute wird dies zu einer wirtschaftlichen Frage, da künstliche Inseln und Strände, die durch steigende Meere erodieren, mit kostspieligen Sandaufschüttungen aus Offshore-Meeresböden „genährt“ werden. Gleichzeitig breiten sich Sanddünen unter dem Druck der Desertifikation über immer größere Gebiete aus.
Eine Sammlung paradoxaler Skulpturen markiert die konzeptionellen Koordinaten von Lees Ausstellung. Jede repräsentiert ein einzelnes Sandkorn aus eben diesem Material, mehr als 850-fach vergrößert, um dessen unwiderlegbare Einzigartigkeit zu enthüllen und Erinnerungen wachzurufen, die in seinen Kurven und Kluften verborgen liegen. Entgegen der allgemeinen Vorstellung werden Sandkörner durch Reibung im Laufe der Zeit nicht glattgeschliffen, wodurch die Spuren vergangener Ökosysteme und geophysikalischer Prozesse ausgelöscht würden. Vielmehr entstehen durch diese Merkmale bestimmte Sandvorkommen mit charakteristischen Kornformen, mineralischen Zusammensetzungen und anderen Eigenschaften, die die physische und dann auch digitale Grundlage globaler Infrastrukturen bilden.
Durch ozeanische Strömungen von Küste zu Küste getragen, repräsentiert Sand buchstäblich und bildlich die Dialektik des Allgemeinen und des Besonderen – „eine Welt in einem Sandkorn“, in den Worten William Blakes. Und auch wenn es intuitiv ist, ist ein vergrößertes Sandkorn doch ein Widerspruch in sich, da Sand vor allem durch seine Größe definiert ist. Alles kann zu Sand werden; heute sind Strände übersät mit Plastikteilen und anderen synthetischen Materialien, die in Körner von etwa 0,06 mm bis 2,0 mm erodiert sind. Hier ermöglicht Lees minimalistische Ästhetik, die konsequent auf einer strengen Palette aus natürlichen Grautönen beruht und nun um die rötlichen, gelben und braunen Sandtöne erweitert wurde, einen Fantasie-Flug. Als hyperrealistische Rekonstruktionen von Sandkörnern bieten die Skulpturen einen Hauch von Humor – eine Erleichterung angesichts der mathematischen Erhabenheit, die an das Grauen des Sorites-Paradoxons und die unendliche Aufgabe des Zählens grenzt. Unter dem Druck der Eigenlogik des Materials werden sie surreal.
Diese Skulpturen sind das Ergebnis von Lees intensiver Zusammenarbeit mit dem Geometrieforscher Phillip C. Reiner, dessen Studio protoCtrl – advanced geometries sich auf parametrische Untersuchungen künstlerischer Konzepte spezialisiert hat. Reiners Arbeit konzentriert sich auf die Entwicklung künstlerischer Ideen, die auf natürlichen Phänomenen beruhen, die durch mathematische und physikalische Prinzipien beschrieben werden. Gemeinsam wählten sie unter Berücksichtigung formaler und poetischer Aspekte Sandkörner von verschiedenen Orten aus, an denen Lee arbeitet. In Zusammenarbeit mit Spezialist*innen der Carl Zeiss Industrielle Messtechnik GmbH wurden die von Lee und Reiner ausgewählten Körner (0,3-1 mm groß) mithilfe eines Röntgenmikroskops gescannt. Die Scans wurden zu dreidimensionalen Computermodellen verarbeitet, die wiederum die Grundlage für die Skulpturen bildeten.
Dieser Prozess widerlegt jegliche vereinfachte Vorstellung wissenschaftlicher Bildgebung als direkte „Lesung des Buches der Natur“. Die Daten mussten umfassend interpretiert und übersetzt werden, um für die Erstellung einer physischen Form nutzbar zu sein. Über verschiedene Ebenen hinweg – vom physischen Substrat über numerische Informationen bis hin zur digitalen 2D-Visualisierung – erarbeiteten Lee und Reiner von den Scans ausgehend eine neue materielle Ausdrucksform, die sowohl technischen Grenzen als auch ästhetischen Ansprüchen unterliegt. Man muss die Geometrie eines Objekts verstehen, um es in einem anderen Maßstab und in einem Medium mit anderem Material wieder in eine physische Form zu bringen. Solch ein Prozess kann nicht automatisiert werden. Um die Skulpturen aus Sand im 3D-Druck zu fertigen, mussten die technischen Grenzen der Drucker, deren Größe und Auflösung (Schichtdicke), sowie das Gewicht des Materials und seiner Bindemittel berücksichtigt werden. Die größten Skulpturen wurden in mehreren Teilen gedruckt – Fragmente von Fragmenten – und zu ihrer endgültigen Form zusammengefügt. Ihre nahtlose Masse und ihre natürlichen Farbverläufe sind Ergebnis einer Kombination aus technischer Planung und Handarbeit.
Mit jedem Wechsel von Maßstab und Medium weisen Sandkörner unterschiedliche, je für sich interessante Parameter auf: Größe, Form, Farbe, Mineralgehalt, Härte, mikroskopische Rückstände kleinerer Partikel und radio-isotopische Signaturen, die die Herkunftsorte der Körner widerspiegeln. Für Sand am charakteristischsten ist, dass er ständig migriert, angetrieben von Wellen, getragen von Wind und ozeanischen Strömungen, aufgewirbelt und dann an den Hängen von Wanderdünen herabrutschend. Sand unterscheidet sich von Staub und Kies durch eben jene Bewegung in Relation zur Luft: Staub bleibt oft in der Luft, während Sandkörner, die in der Luft schweben, schwer genug sind, um schließlich zu Boden zu fallen und sich anzuhäufen. Kies hingegen ist zu schwer, um von einem Luftstoß erfasst zu werden. Unabhängig von seiner materiellen Beschaffenheit oder genauen Größe zeichnet sich Sand vor allem durch seine Bewegung in der Welt aus – eine Bewegung, gegen die seine Fixierung in Beton wie ein vergeblicher Protest erscheint.
In einer Untersuchung über die Bemühungen zur Verhinderung der Desertifikation in China beschreibt der Anthropologe Jerry Zee, wie die Dynamik des Sandes die politische Zeit umformt: „Sand überträgt Zeit in Rekursionen. Sich durch Sand zu erinnern, bedeutet zugleich, vorherzusagen. Als ein Material, das sich bewegt, anlagert, momenthaft verharrt oder zur Auflösung neigt, vereint es vergangene und zukünftige Begräbnisse.“[2] Wie in einer Sanduhr bedeutet das Stoppen von Sand, die Zeit anzuhalten. Seine temporäre Fixierung in Architektur oder Skulptur stellt eine Momentaufnahme auf seiner unausweichlichen Reise dar.
Lee begann ihre Serie Field of Fragments während eines Aufenthalts in Portugal im Jahr 2022, wo sie erstmals Techniken entwickelte, um Sand als Medium für Malerei zu nutzen. Die aktuelle Ausstellung umfasst Bilder aus Sand, der an verschiedenen Orten gesammelt wurde, darunter die Westküste Südkoreas; Dakar, Senegal; New York City und Connecticut, USA; Alentejo, Portugal; und Mallorca, Spanien. Jede Arbeit fängt die Farbpalette der Küstenlandschaften ein, aus denen der Sand stammt. „Wie Pigmente“, erklärt Kuratorin Lydia Korndörfer, „erschafft die Künstlerin Farbflächen oder Farbverläufe mit selbst gesammelten Sedimentkörnern, als Hommage an die Werke der koreanischen Kunstbewegung Dansaekhwa („monochrome Malerei“), die in den 1970er-Jahren ihren Höhepunkt als subversive, künstlerische Antwort auf die politische Krise nach dem Koreakrieg erreichte.“ Sowohl in ihrer ästhetischen Form als auch in ihrem materiellem Inhalt verkörpern die Bilder die politischen Widersprüche des Sandes: sinnliche Vielheit und zugleich leere Projektionsfläche. Die „Felder“ erinnern an die antike Technologie des Sandkastens, die bis heute für militärische Planspiele und Strategieentwicklung sowie zu Bildungszwecken genutzt wird. Es ist kein Zufall, dass Wüstenregionen im Nahen Ostens heute zu den am stärksten militarisierten Gebieten der Welt zählen. In diesem geopolitischen Kontext fungieren sandige Landschaften als Übungsplätze für anhaltende Konflikte um Öl und Gas. „Indem wir bestimmte Elemente wie Sand militarisieren und sandige Landschaften als Bühne für Kriegsgeschehen markieren, besetzen wir auch die Vorstellungskraft, die von diesen Landschaften inspiriert ist.“[3] Ironischerweise ist Wüstensand zu rund und glatt, um im Bau verwendet zu werden, und zu leicht, um an von Wind und Wellen gepeitschten Stränden zu verbleiben. Indem sie Erinnerungen und Fantasien wachrufen, ziehen Lees Farbverläufe auch Reflexionen über die rastlosen Bedeutungen des Sandes mit sich.
Es wird nicht unbemerkt bleiben, dass sich diese Themen auch in Lees früheren Arbeiten wiederfinden, etwa in ihrer Installation Inzision (2018) in der Sexauer Gallery, für die 14 Tonnen schwarzer und weißer Kies verwendet wurden, um den Galerieboden entlang einer geraden Linie zu teilen. Die Installation ist eine Metapher für den 38. Breitengrad, die ursprüngliche Grenze zwischen Nord- und Südkorea – eine Narbe der ungelösten, tragischen Geschichte der Teilung Koreas. Die Arbeit gewinnt vor dem Hintergrund einiger Überlegungen des Künstlers Robert Smithson, die vor über 50 Jahren verfasst wurden, eine neue Bedeutung. Während einer Tour durch die prosaische Stadt Passaic, New Jersey, nominierte Smithson eine Reihe realer und imaginärer „Monumente“. Diese Orte und Objekte heben sich nicht von ihrem Kontext ab, sondern zeigen kontinuierliche Prozesse, denen sie im Laufe der Zeit unterworfen sind.
Das letzte Monument war ein Sandkasten oder eine Modellwüste. Unter dem toten Licht des Passaic’schen Nachmittags wurde die Wüste zu einer Karte unendlichen Verfalls und von Vergessenheit. Dieses Monument aus winzigen Partikeln flackerte unter einer trüb glühenden Sonne und deutete die finstere Auflösung ganzer Kontinente an, das Austrocknen von Ozeanen – es gab keine grünen Wälder und hohen Berge mehr; alles, was existierte, waren Millionen von Sandkörnern, ein riesiges Depot aus zu Staub pulverisierten Knochen und Steinen. Jedes Sandkorn war eine tote Metapher, die Zeitlosigkeit gleichkam, durch den falschen Spiegel der Ewigkeit …
Ich möchte nun die Irreversibilität der Ewigkeit beweisen, indem ich ein simples Experiment zur Demonstration von Entropie verwende. Stellen Sie sich in Ihrem geistigen Auge einen Sandkasten vor, der in zwei Hälften geteilt ist, mit schwarzem Sand auf der einen und weißem Sand auf der anderen Seite. Wir nehmen ein Kind und lassen es hunderte Male im Uhrzeigersinn im Sandkasten laufen, bis der Sand sich vermischt und beginnt, grau zu werden; danach lassen wir es gegen den Uhrzeigersinn laufen, aber das Ergebnis wird keine Wiederherstellung der ursprünglichen Teilung sein, sondern ein größerer Grad an Grauwert und eine Zunahme der Entropie.
— Robert Smithson, A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey[4]
In diesem Gedankenexperiment im Sandkasten könnte der monochrome Zustand zugleich für Wiedervereinigung und Vergessen stehen. Und doch zeigt Lees Inzision, dass die materielle und geografische Spezifität des Bodens, auf dem das Experiment durchgeführt wird, den entscheidenden Unterschied macht, da sie das Tempo der Entropie beeinflusst. Denn das eigentliche Experiment findet in der politischen Zeit statt.
– Dehlia Hannah
[1] Vanessa Agard-Jones (2012): „What the Sands Remember.” GLQ 18(2-3), S. 325-346, hier S. 326.
[2] Jerry Zee (2017): „Holding Patterns: Sand and Political Time at China’s Desert Shores.“ CULTURAL ANTHROPOLOGY 32(2), S. 215-241, hier S. 216.
[3] Nadine Hattom (2023): „Great Sand: Grains of Occupation and Representation“, in War-torn Ecologies, An-Archic Fragments: Reflections from the Middle East, hrsg. von Umut Yıldırım, Cultural Inquiry 27, S. 105-120. Berlin: ICI Berlin Press.
[4] Smithson, Robert (1967): „A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey.“ Zuerst erschienen unter dem Titel: „The Monuments of Passaic.“ Artforum 6(4, Dezember).
Vernissage: Freitag, 22. November 2024, 18-22 Uhr
Ausstellungsdaten: Freitag, 22. November 2024 – Samstag, 18. Januar 2025
Zur Galerie
Bildunterschrift Titel: Installation view, FIELD OF FRAGMENTS, Marcus Schneider, Courtesy SEXAUER Gallery.
Ausstellung Jeewi Lee, – Sexauer Gallery | Zeitgenössische Kunst in Berlin | Contemporary Art | Ausstellungen Berlin Galerien | ART at Berlin