post-title Ugo Rondinone | i don’t live here anymore | Esther Schipper | 15.09.-21.10.2023

Ugo Rondinone | i don’t live here anymore | Esther Schipper | 15.09.-21.10.2023

Ugo Rondinone | i don’t live here anymore | Esther Schipper | 15.09.-21.10.2023

Ugo Rondinone | i don’t live here anymore | Esther Schipper | 15.09.-21.10.2023

bis 21.10. | #4032ARTatBerlin | Galerie Esther Schipper präsentiert ab 15. September 2023 die Einzelausstellung „i don’t live here anymore“ mit Fotografien des Künstlers Ugo Rondinone. 

Welchen Ort hast du verlassen? Warum lebst du dort nicht mehr? Und wohin bist du umgezogen? Die Aussage als Titel i don’t live here anymore (DE: ich wohne hier nicht mehr) wirft sofort Fragen auf, die höchstwahrscheinlich unbeantwortet bleiben werden, aber das macht nichts. Es sieht nach einem guten Ort aus, mit genügend Raum, um sich auszudrücken; um das Verständnis des eigenen Selbst zu vertiefen; um mit fetischistischen Neigungen zu experimentieren; um mit Gender zu spielen; um Wildheit ebenso wie Verletzlichkeit zu zeigen; um das skulpturale Potenzial des Körpers auszuloten, indem man ihn in Abstraktion verwandelt.

Es ist dennoch nicht nur ein Raum von Freude und Glück, wie die Verweise der Fotos auf Pierrot andeuten – ein ruhig beobachtender Archetyp, der dafür bekannt ist, das Gefühl einer gewissen Melancholie zu symbolisieren. Worum geht es bei der Melancholie? Geht es um das, was man zurücklässt, wenn man wegzieht, fort schreitet oder vorankommt? Abschiede sind in der Tat immer Teil einer Veränderung, sie markieren einen Übergang zu einem neuen Modus, Zustand oder einer neuen Phase.

Eine gewisse Leichtigkeit im Umgang mit Veränderung ist jedoch auch in diesen fünf Fotos zu erkennen, ebenso wie im gesamten fotografischen Werk von Rondinone, zu dem diese Suite gehört. Die Fotos zeigen Rondinone als bestechende, zeitlose Archetypen, die sich in zweideutige, eigenwillige Figuren verwandeln: die ganz in Schwarz gekleidete Femme fatale, das verträumte Hippie-Mädchen, den Wiener Aktionisten-verführerisch-androgynen-Metzger, den Underground-Musik-Typen und, wie hier präsentiert, eine Fetisch-Version von Pierrot in einem skulpturalen, dadaistischen Outfit. Insgesamt zeigen die Fotos ein Vergnügen an der Androgynität, an der Möglichkeit, Identitäten zu wechseln, und an dem Konzept der Geschlechterfluidität, das nach jahrelanger emanzipatorischer Arbeit verständlich gemacht worden ist. Wie dieses Werk zeigt, kann man Charaktere wechseln, wenn man es versteht Performativität für sich zu nutzen.

Aber was hat es mit den Bezügen zum Dadaismus auf sich? Wird er nicht oft als der Urknall der Moderne angesehen, der eine Zeit des rasanten Wandels einläutete? In der Tat entstanden nach seiner Proklamation in einem Manifest von 1916 verschiedene andere modernistische Bewegungen, die sich nicht selten auf die eklektische Dada-Bewegung stützten, welche gegen jede Art von vorgeschriebener Form war und von der Mehrdeutigkeit lebte. Mehr als achtzig Jahre später entstand i don’t live here anymore ebenfalls an der Schwelle zu einer neuen Ära, nämlich dem digitalen Zeitalter.

Darin haben Bilder und die Produktion von Bildern eine radikale Wendung genommen, weil das Internet und die Digitalisierung exponentiell voranschreiten und sich in soziale Medien verwandelten, deren dezentralisierten Mechanismen der Bildverbreitung die Subjektivität aufblühen ließ – mit all seinen Vor- und Nachteilen.

Es gibt noch eine weitere anachronistische Referenz zu entschlüsseln: Der Maulkorb – mit seinen makellosen Linien, die stilistisch der Linienführung des Konstruktivismus ähneln – betont und erweitert die Form des Gesichts, legt aber auch dessen gitterartige Struktur nahe, fast wie ein Vorläufer der heutigen biometrischen Gesichtserkennung. Kombiniert mit dem kämpferischen Blick in den Abgrund, der wie eine nietzscheanische Warnung wirkt, dass der Abgrund auch zurückschaut, scheint es, als seien die Kehrseiten des anbrechenden digitalen Zeitalters bereits ausgemacht.

Neben Rondinones Überlegungen zu Performativität und Transformation versuchen diese Interpretationen und Gedanken zu enträtseln, wie i don’t live here anymore den Begriff der Zeitlosigkeit greifbar macht. Der Künstler nimmt immer wiederkehrende Archetypen zum Gegenstand, modifiziert und interpretiert sie neu, spielt mit ihnen und erforscht ihr Potenzial in Bezug auf sein eigenes subjektives Wesen, indem er sie in einen Bereich der Mehrdeutigkeit stellt, um sie gleichzeitig allgegenwärtig und einzigartig zu machen. Auf diese Weise zeigt Rondinone, dass man, egal wie befremdlich etwas erscheinen mag, immer eigene Bezüge erkennen kann. Es ist die flirrende und doch starke Vertrautheit, die man in einem Déjà-vu findet.

Text von Léon Kruijswijk

 

Rondinone gilt als eine der bedeutendsten Stimmen seiner Generation, ein Künstler, der eindringliche Meditationen über die Natur und die menschliche Existenz entwirft und dabei ein organisches formales Vokabular entwickelt, das eine Vielfalt an bildhauerischen und malerischen Traditionen miteinander verbindet. Die Weite und Großzügigkeit seiner Vision der menschlichen Natur haben zu einer großen Bandbreite an zwei- und dreidimensionalen Objekten, Installationen, Videos und Performances geführt. Seine hybridisierten Formen, die sich sowohl aus antiken als auch aus modernen kulturellen Quellen speisen, strahlen Pathos und Humor aus und berühren den Kern der drängendsten Fragen unserer Zeit, wo modernistische Errungenschaften und archaische Ausdrucksformen sich kreuzen.

Ugo Rondinone wurde 1964 in Brunnen in der Schweiz geboren. Er studierte an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien. Der Künstler lebt und arbeitet in New York. Ausgewählte Einzelausstellungen umfassen: Centre George Pompidou, Paris (2003); Whitechapel Gallery, London (2006); Art Institute of Chicago, Chicago (2013); Rockbund Art Museum, Shanghai (2014); Palais de Tokyo, Paris (2015); Secession, Vienna (2015); Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam (2016); MACRO, Rome (2016); Carre D’Art, Nimes (2016); Berkley Art Museum, Berkeley (2017); Contemporary Art Center, Cincinnatti (2017); Bass Museum of Art, Miami (2017); Belvedere, Vienna (2021); Tamayo Museum, Mexico City (2022); Schirn Kunsthalle, Frankfurt (2022); Petit Palais, Paris (2022); Scuola Grande San Giovanni Evangelista di Venezia, Venice (2022); The Musée d’Art et d’Histoire, Geneva (2023); Storm King, New York (2023) and The Städel Museum, Frankfurt (2023). Im Jahr 2007, vertrat Ugo Rondinone die Schweiz bei der 52nd Biennale von Venedig. Zukünftige Ausstellungen sind: The Phillips Collection, Washington und Fosun Foundation, Shanghai.

Vernissage: Freitag, 15. September 2023, 18:00 – 21:00 Uhr

Ausstellungsdaten: Freitag, 15. September – Samstag, 21. Oktober 2023

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Bildunterschrift Titel: Ugo Rondinone, i don‘t live here anymore, 1999 (detail), C-print, Plexiglas, Alucobond, Set aus 5 Prints, je 150 x 100 cm (5 Teile), Courtesy the artist, and Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul, Image © the artist

Ausstellung Ugo Rondinone – Esther Schipper | Zeitgenössische Kunst in Berlin | Contemporary Art | Ausstellungen Berlin Galerien | ART at Berlin

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