bis 24.01 | #4878ARTatBerlin | Sexauer Gallery präsentiert ab Freitag, 21. November 2025 die Ausstellung „We measure the Distance“ der Künstlerin Sexauer Gallery.
Nukleus der Ausstellung We measure the Distance von Ornella Fieres ist ein Fotoalbum aus dem 19. Jahrhundert. Es zeigt eine französische Familie, die nach Brasilien ausgewandert ist. Die Fotografien öffnen den Blick in die Vergangenheit – schwarz-weiße Momentaufnahmen, festgehalten zur Erinnerung.
Das Album ist in braunes Leder gebunden, auf dem Einband goldgeprägte Initialen. Wir blättern darin. Wir vertiefen uns in die Vergangenheit. Wir? – Nein! Eine künstliche Intelligenz.
Seit über zehn Jahren arbeitet die Künstlerin mit Maschinen, Rechnern, Algorithmen und künstlicher Intelligenz. Fieres beauftragte eine KI, die Fotografien anzusehen und zu interpretieren. Seit Jahren erforscht sie, wie künstliche Intelligenz Bilder der Vergangenheit wahrnimmt. Dabei vergleicht sie die Wahrnehmung von Mensch und Maschine und untersucht deren Wechselspiel. Manchmal manipuliert Fieres die Wahrnehmung der KI, manchmal lässt sie sich auf deren Sichtweise ein und erweitert damit ihre eigene. Gemeinsam mit der KI taucht Fieres in Momente der Vergangenheit ein: Spurensuche und Erinnerungsarbeit im virtuellen Coworking Space.
Die Ausstellung zeigt vier Werkgruppen:
The Essence of a Moment / Depth Estimation zeigt jeweils einen kleinen Originalabzug – ein kleines Mädchen mit Plüschtier oder eine Frau auf einem Berggipfel – und darüber ein größeres, rundes schwarzes Bild mit einem Muster aus unzähligen weißen Punkten. Das erinnert an den Blick durch das runde Fenster einer Raumstation in die Tiefe des Alls. Und tatsächlich handelt es sich dabei um eine Vermessung des Raums – nicht des Kosmos, sondern des Raums innerhalb der historischen Fotografie.
Fieres beauftragte die KI, die Tiefe und Räumlichkeit der alten Aufnahmen sichtbar zu machen. Dazu berechnet die KI aus der zweidimensionalen Fotografie sogenannte Punktwolken, die anschließend in einem schwarzen Raum visualisiert werden. Fieres kann diese Punktwolken am Computer in alle Richtungen drehen und das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten – fast, als würde sie sich um die Erinnerung selbst herumbewegen. Die Bilder zeigen jeweils eine der möglichen Perspektiven.
The Essence of a Moment / Depth Estimation ist ein Blick in die Blackbox maschineller Wahrnehmung. Zwei Perspektiven begegnen sich: die menschliche Erinnerung und die algorithmische Analyse. Dieselbe Situation, gesehen aus verschiedenen Richtungen und mit unterschiedlicher Wahrnehmung – ein kleines Mädchen mit einem Plüschtier.
Adversarial Attack, Treefrog, 060, 2025, Fine Art Print on Baryta paper, 81 x 81 cm, unique
Inverse Depth Estimation zeigt zwei abstrakte Schwarz-Weiß-Arbeiten mit nahezu malerischer Anmutung. Ausgangspunkt sind die aus den historischen Fotografien gewonnenen Punktwolken. Fieres löscht gezielt einzelne Punkte aus den Datensätzen, sodass die räumliche Darstellung fragmentiert wird. Der Datensatz wird unvollständig, die Topografie unsicher, die „Erinnerung“ lückenhaft. Wie der Mensch füllt auch die Maschine – bei der Rückrechnung der Wolken in ein Bild – die Leerstellen des Vergessens. Der maschinelle Blick wird unsicherer, spekulativer, poetischer. Die Bilder entfalten eine zarte Schönheit und wirken beinahe traumhaft.
Adversarial Attack befasst sich mit der gezielten Verfälschung von Bildern durch künstliche Intelligenz. Man kann mithilfe einer KI die Bilderkennung einer anderen KI stören, indem man Pixelveränderungen einbaut oder auch fremde Motive in die Bilder implementiert. Diese Irreführung einer KI bezeichnet man als „Adversarial Attack“.
Ausgangspunkt für die Arbeiten waren die Porträts aus dem Familienalbum. Fieres beauftragte eine KI, Bilder von in Brasilien heimischen Tieren in die menschlichen Porträts zu implementieren – einen Kolibri, einen Jaguar und einen Baumfrosch. Während eine KI zur Bilderkennung durch solche Manipulationen leicht in die Irre geführt würde, bemerken Menschen diese Störungen kaum. In den Arbeiten von Adversarial Attack hat Fieres die Eingriffe jedoch so verstärkt, dass das ursprüngliche Motiv auch für Menschen kaum noch sichtbar ist. Weder Mensch noch Maschine erkennen das ursprüngliche Bildmotiv. Was bleibt, ist das Rauschen der Manipulation. Diesem Rauschen liegen jedoch weiterhin die Porträts zugrunde. Auf große Fahnen gedruckt, hängen die manipulierten Porträts an der Decke. Fast scheint es, als schwebten die Menschen der Vergangenheit geisterhaft im Raum.
We archive the Change ist ein Video, das einen mit einem 3-D-Programm generierten Flug durch die Punktwolken zeigt – jede Punktwolke die Tiefenmessung einer historischen Aufnahme. Wir sehen quasi einen Flug durch das Fotoalbum. Eine KI-generierte Stimme beschreibt zu jeder Punktwolke, was eine KI auf dem historischen Foto gesehen hat, und vermerkt ihre menschlich anmutende Reaktion darauf. Es klingt zurückhaltend, aber ist irritierend, denn die KI spricht in der ersten Person Plural: We measure the distance. We listen. We study the stillness. Es klingt, als schließe die KI uns in ihr „wir“ ein, als sei sie selbst ein Mensch.
Das Video We archive the Change fasst die Ausstellung zusammen und ist ein poetisches Archiv künstlicher Wahrnehmung, Dokumentation und Dichtung zugleich: We decode the gesture. We feel the weight. We measure the Distance.
Vernissage: Freitag, 21. November 2025, 18:00 – 21:00 Uhr
Ausstellungsdaten: Freitag, 21. November 2025 bis Samstag, 24. Januar 2026
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Bildunterschrift Titel: Ornella Fieres, Inverse Depth Estimation, 108 a, 2025, Fine Art Print on Baryta paper, 200 x 150 cm, unique
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