bis 13.04. | #4223ARTatBerlin | PSM Gallery zeigt derzeit die Ausstellung Seventeen Grams of Longing der Künstlerin Iris Häussler.
Seventeen Grams of Longing (Siebzehn Gramm Sehnsucht) erzählt durch die Linse der miteinander verflochtenen Leben zweier Männer und deren Interesse für Zugvögel über unbewußte und bewußte, individuelle und kollektive Sehnsüchte. Im Jahr 2024 wurden die künstlerischen Hinterlassenschaften zweier Brüder auf zwei verschiedenen Kontinenten entdeckt. Durch die jeweiligen Funde in Berlin und Toronto erfahren wir von der gemeinsamen Leidenschaft und stellen uns erneut eine der Fragen, die sich die Wissenschaft seit Jahrzehnten stellt: Wie sehr werden wir von der Natur bestimmt, wie sehr von unseren vergangenen Erfahrungen?
Iris Häussler entwickelte für ihr Projekt Seventeen Grams of Longing die zwei Charaktere Kurt und (K)Carl, Zwillinge, die in der Mitte des Zweiten Weltkriegs in Deutschland geboren und als Kleinkinder getrennt wurden. Während Kurt weiterhin in Berlin aufwuchs, nahm (K)Carls Leben in Toronto, Kanada, seinen Lauf (anglophonisiert mit C geschrieben). Da die Zwillinge auf zwei Kontinenten aufwuchsen, sahen sie sich im wirklichen Leben nie wieder; im Rahmen der Ausstellungen Seventeen Grams of Longing im März/April 2024 bei PSM in Berlin und im September/Oktober 2024 bei Daniel Faria in Toronto treffen sich die beiden Figuren sinnbildhaft „in den Lüften“ wieder.
Durch ihre Vogelbeobachtung, ihr metaphorisches Denken, ihre Kreativität, ihr Einfühlungsvermögen und ihre Leidenschaft schufen Kurt und (K)Carl alternative Welten, ihrem Bestreben Folge leistend, die Vögel, deren Aussterben sie beobachteten, wieder ‚in die Lüfte zu bringen‘ – jeder auf seine Weise. Unbewußt drückt dieser Akt vielleicht auch ihre Sehnsucht nach einer Reise zueinander aus, nach dem Entkommen aus ihren realen Lebensumständen und der Suche nach ihrem anderen unbekannten Ich.
Zugvögel wiegen im Durchschnitt etwa 17 Gramm, sie sind sehr zart und zerbrechlich gebaut, bringen aber zugleich die unglaubliche Ausdauer und Kraft auf, zweimal im Jahr kontinentale und interkontinentale Strecken (Entfernungen von bis zu 15.000 Kilometern) zu überwinden; eine Fähigkeit, die bis heute wissenschaftlich nicht vollständig erforscht ist.
Die künstlerischen Umgebungen der beiden Figuren, die jeder von ihnen gestaltete, erlaubten es ihnen auch, sich für etwas Geheimnisvolles zu begeistern – etwas Ungreifbares, etwas, das sie nicht kannten – und doch hatte es Macht über ihren emotionalen Zustand während ihres gesamten Lebens: ihre traumatische Erfahrung der Trennung in der frühen Kindheit und (K)Carls anschließende Migration als Kleinkind und schlussendlich die Tatsache, dass in beiden Familien jemals über die Trennung der Zwillinge gesprochen wurde. Die Vögel, die sie beobachteten und
über die sie lasen, und ihre Augen, die in den Himmel blickten, erfüllten sie mit einer Sehnsucht, für die sie nicht wirklich eine Sprache hatten – und auch keine professionellen Fähigkeiten, um die Jahr für Jahr in geringerer Zahl auftretenden Vogelpopulationen zu erfassen.
Kurt sammelte Ornithologiebücher, die er zwar fasziniert las, aber gleichzeitig auch zerstörerisch behandelte: Er schnitt jede Abbildung, die einen Vogel zeigte, heraus. Was übrig blieb, waren Bücher mit unheimlichen Löchern und Lücken, die nur die negativen Umrisse der ausgeschnittenen Vögel zeigten. Kurt holte diese jedoch wieder in den Himmel: als Mobiles, als an die Wände gepinnte, ausgeschnittene Papiervögel, die seine alternative Welt bevölkern.
Im Schaffensprozeß von Seventeen Grams of Longing empfindet Iris Häussler ein metaphorisches, fast magisches Denken und Träumen ihrer fiktiven Figuren nach und suggeriert damit, dass wir unsere inneren, tiefen Sorgen und Hoffnungen durch das Kunstmachen an- und aussprechen und die Kraft dieser erfahrbar machen können. Die Werke zeigen eher den negativen Raum um die Vögel herum als die Vögel selbst; es gibt es keine präparierten Vögel oder Vogelskulpturen und den Büchern, in denen die Vögel der Welt detailliert und mit Wissen und Leidenschaft beschrieben werden, fehlen genau die Illustrationen dieser.
Iris Häussler spürt nicht nur in der Werkserie der Zwillingsbrüder Kurt und (K)Carl, sondern auch in ihrem gesamten Oeuvre durch die Erschaffung fiktionaler KünstlerInnen-Figuren und der Werke derer dem Konzept des transgenerationalen Traumas nach; ausgelöst auch durch ihre eigene Biographie und dem Versuch den belastenden Traumata des Zweiten Weltkrieges innerhalb der eigenen Familie durch Auswanderung zu entkommen.
Warum liege ich nachts stundenlang wach und stelle mir Vögel vor, die nach ihren Wanderungen an einem ihrer Brutziele ankommen (ein Waldkauz, ein Specht, ein Stieglitz, ein Blaumeisenvogel, ein Schornsteinsegler…) und obwohl völlig erschöpft dennoch „nistbereit“ sind. Während sich die Welt in ihrer „Abwesenheit“ verändert – ihre früheren Nistplätze verschwinden, die Bäume, auf denen sie saßen, gefällt werden, die Flugrouten, die sie einst beherrschten, mit Wolkenkratzern ausgestattet werden, die zwar den Himmel widerspiegeln, für die Tiere aber nur eine „tödliche Falle“ darstellen.
Zitate von *Iris Häussler, Text von Iris Häussler und Sabine Schmidt
Ausstellungsdaten: Samstag, 2. März 2024 – Samstag, 13. April 2024
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Bildunterschrift Titel: Seventeen Grams of Longing, installation view by Marjorie Brunet-Plaza
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